Spielerin des Jahres 2022: Wei-Hsuan Yen

Es ist Mittwoch, 21:45 Uhr. Nicht ein Mittwoch, nein, jeden Mittwoch das gleiche: Der Hausmeister der Berger-Halle möchte sauber machen und die Halle schließen. Doch eine Sportbund-Spielerin hat andere Pläne. Der Vorhand-Schuss und die dazu gehörige Schnelligkeit muss nochmal für die Wochenend-Spiele geübt werden. Und so drischt sie nach vier Stunden Training (!) noch einmal auf alles, was sich am Balleimer bewegt, die Bälle knallen auf den Tisch, dann direkt an die Wand. Für Frauen ist es eigentlich kein Kompliment, doch sie freut sich, wenn man ihr zuruft: „Du Maschine“. Erst nach dem letzten Schlag ist Wei-Hsuan Yen zufrieden. Es bleiben nur noch zwei Minuten für den Abbau, dann läuft die Hallenzeit ab. Kein Problem: Wei und der Trainer räumen im gleichen Tempo auf wie zuvor gespielt wurde.

Die 26-jährige Taiwanesin hat eine gute Begründung für ihren Ehrgeiz und die Tatsache, die Zeit immer bestmöglich nutzen zu wollen: „Ich mache alles langsam, nur die Musik und Tischtennis nicht.“ Das kann man sich allerdings kaum vorstellen, wenn man Wei so sieht. Denn: Körperlich ist sie nun wahrlich kein Riese, aber ihr gelingt es praktisch immer, auf Augenhöhe zu sein – wie auf dem Foto mit Armin Alicic. Wei ist einfach eine Riesin, wenn es um Schnelligkeit geht – und darum, eine gute Situationskomik herzustellen. Ihr Understatement-Humor ist verblüffend. Als sie kurz vor der Abreise zum 3. Bundesliga-Spiel nach Chemnitz berichtete, sie habe ihren GEWO-Rock zu Hause vergessen, fügte sie gleich mit breitem Grinsen die Lösung an: „Ich habe mir Ellens [Wohlfart] Rock geliehen. Das ist gut. Dann habe ich gut Aufschläge und hart Schuss.“ Schuss ist auch das Stichwort für einen Spruch voller Selbstironie, den sie nach dem letzten Match rausließ. Als sie vom Betreuer gelobt wurde, dass heute die Quote beim Vorhand-Schuss deutlich höher lag als sonst, meinte sie trocken: „Ja, das war wegen meiner Schmerzen in der Schulter. Dann habe ich eine kürzere Bewegung gemacht, damit es nicht wehtut. Und die Bälle habe ich so besser getroffen.“

Nichts zu lachen haben dagegen Weis Gegnerinnen. Schon beim Einspielen verziehen die meisten ihr Gesicht, wenn sie mit Wei gegen deren Noppen Rückhand-Kontern. Sportliche Stärke und tolle Team-Playerin – die Begründungen für den Titel „Spielerin des Jahres beim Sportbund“ liegen nahe.

Zwar gibt es zahlreiche erfolgreiche Akteure beim Sportbund, so auch ihre Teamkollegin Alexandra Schankula mit 16:0 in der 3. Liga vorne (!). Aber 29:0 Siege in nur einer Halbserie, das ist einfach unglaublich – „Ms. Unbeatable“ eben. Dass es überhaupt zu solch vielen Einsätzen kam, ergab sich aus einer Verkettung von Zufällen. Ursprünglich waren für Wei die Matches in der 2. Damen (Oberliga) geplant. Dazu vier Spiele in der 3. Bundesliga als „Zubrot“. Doch es kam anders. Im ersten Spiel fiel Ramona Betz aus, danach fehlte Elisa Nguyen ungeplant häufig wegen Einzelturnieren. Schließlich konnten auch Anja und Alexandra krankheitsbedingt je einmal nicht antreten. Wer war immer da? Wei! Sie spielte am Ende neben 8 Partien in der Oberliga auch alle 9 Matches in der 3. Liga. Und das auch noch ungeschlagen, verbunden mit einem Zugewinn von deutlich über 100 TTR-Punkten in nur drei Monaten!

Und genau diese Eigenschaft ihrer Präsenz ist der noch wichtigere Grund für die Auswahl zur „Spielerin des Jahres“. Wei spielt nicht nur immer, sie ist auch sonst immer da. Wei wohnt an ihrem Studienort Trossingen. Musik ist das Fach ihrer Wahl, ihr Instrument die Klarinette. Über Rottweil fährt sie nach Stuttgart. Dreimal die Woche. Von ihrem Wohnheim-Zimmer in die Ostheimer Sporthalle dauert die Fahrt per Zug und zweimal Umsteigen häufig 2,5 Stunden – einfache Strecke! Es folgen 4 Stunden Training für 5 Stunden An- und Abreise! Zunächst spielt sie 1,5 Stunden mit einer Eselsgeduld als Sparringspartnerin mit unseren Jugendlichen. Da wird nicht mit Samthandschuhen agiert. Egal, ob ihr Schützling 1.700 oder 900 TTR auf dem Konto hat. Mit letzter Intensität und wenn es sein muss, auch Härte, geht sie auf jeden Ball. Respekt vor dem Gegenüber ist für Wei ein hohes Gut, Miteinander das allerhöchste. Das Wort „sich schonen“ scheint in ihrem Sprachschatz und schon gar nicht in ihrem Verhalten zu existieren. Immer freundlich, konsequent, am Tisch brutal, im Leben mit Charakter auf Harmonie bedacht – so könnte man Wei beschreiben. Konkretes Beispiel: Bei der Diskussion zur Rückrundenaufstellung bot sie schnell an, auch in der Rückrunde einige Spiele in der 2. Mannschaft zu machen. Sie hätte mit ihrer TTR-Zahl sogar den Anspruch auf die Position 2 der 1. Mannschaft. Auch das Interesse am Fortschritt ihrer Teamkolleginnen ist sehr ausgeprägt. Oberliga-Mitspielerin Melina Schruff meinte einmal: „Als ein Ball bei mir im Training nicht klappte, hat sie mich beraten. Als die Bälle dann kamen, freute sie sich mehr als ich.“

Offensichtlich fühlt sie sich beim Sportbund sehr wohl. Und das trotz einiger Strapazen. Denn gefühlt ist sie die halbe Woche zwischen Trossingen und Stuttgart unterwegs. Bei Spielen am Samstag und Sonntag in den beiden Damen-Teams sind es oft zweieinhalb Tage Aufenthalt in Stuttgart, die sie mit Übernachtungen bei Familie Goerke verbringt. Immer mit dabei: Ihre riesige Sporttasche. „Da drin könnte ich im Notfall auch schlafen“, nimmt sie sich und ihre geringe Körpergröße gerne auf den Arm. Doch die Fahrten sollen sich bald verkürzen. Anfang nächsten Jahres will sie in Stuttgart ein Zimmer suchen, umziehen, die Endphase ihres Musik-Studiums lässt das zu. Wenn dann allerdings mittwochs nach dem Training die lange Heimfahrt bis Mitternacht wegfällt, ist die große Frage, ob sie sich vom Hausmeister schon um 21:45 Uhr vom Balleimer drängen lässt …

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